"Im Gespräch ...": Projektergebnisse verankern und reflektieren im Verbundvorhaben "MIGOEK"
Wie können Angebotsstrukturen für migrantische Gründungsinteressierte in ländlichen Regionen verbessert werden?
Das Projekt "MIGOEK" schließt im ersten Halbjahr 2020 seine Arbeiten ab. Jörg Lahner und Leonie Wagner reflektieren im Interview, wie neue Modelle und Instrumente Vorort verankert werden und welche Impulse die Wissenschaft setzen konnte.

Die "MIGOEK"-Verbundpartner entwickelten und testeten Ansätze, um über die Bedarfe von Migrant*innen in der (Vor)Gründungsphase zu informieren, die beteiligten Akteure besser zu vernetzen und Berater*innen für diesen Bedarf weiterzubilden.

Jörg Lahner ist Professor für Wirtschaftsförderung an der Fakultät Ressourcenmanagement der HAWK, Leonie Wagner Professorin für Pädagogik und Soziale Arbeit an der Fakultät Management, Soziale Arbeit, Bauen der HAWK. Beide haben im Projekt MIGOEK – Migrantische Ökonomie für ländliche Kommunen gemeinsam mit Praxispartner*innen aus den Landkreisen Cloppenburg, Holzminden und dem Werra-Meißner-Kreis untersucht, wie eine Verbesserung der Angebotsstrukturen für migrantische Gründungsinteressierte in ländlichen Regionen möglich ist.

 

Herr Lahner, Frau Wagner, Mit welchen beispielhaften Herausforderungen Ihrer Region setzten Sie und die Projektpartner*innen sich auseinander?

Jörg Lahner: Bislang werden migrantische Existenzgründer*innen und Unternehmer*innen in ländlichen Regionen zu wenig wahrgenommen und vor allem zu selten auch von den für Gründungen zuständigen Institutionen als Zielgruppe adressiert. Das ist eigentlich erstaunlich, da nicht zuletzt aufgrund negativer demographischer Entwicklungen und deren Folgen die Gründungen und Unternehmen von Bürger*innen mit Migrationshintergrund wichtige Potentiale darstellen. Sie füllen Versorgungslücken, sei dies im Bereich Pflege, Lebensmittel, Handwerk oder anderer Dienstleistungen, schaffen Arbeitsplätze und damit Einnahmen für die Kommunen und können in von Leerständen geprägten Innenstädten neue Impulse setzen.

Leonie Wagner: In ländlichen Regionen bestehen aber in der Regel weder spezifische Angebote, noch Kontakte zu migrantischen Organisationen, über die z. B. eine Ansprache der Zielgruppe stattfinden könnte. Zudem gibt es zwischen „Wirtschaft“ und „Integration“, d. h. zwischen Existenzgründungsberatungseinrichtungen und sozialen Diensten, die mit Migrant*innen arbeiten, selten Kontakte, so dass auch hier eine Vermittlungs- und Verweisungslücke besteht. Außerdem, so haben wir in unserer Untersuchung festgestellt, gibt es Sprachbarrieren in verschiedener Hinsicht: Zum einen brauchen einige Migrant*innen in Beratungssituationen eine sprachliche Unterstützung, zum anderen bedienen sich Berater*innen häufig einer Fachsprache, die selbst für Gründungsinteressierte ohne Migrationshintergrund eine Herausforderung darstellen kann. Hinzu kommen bei einigen Beratenden Vorstellungen über die „Gründer*innenpersönlichkeit“, der migrantische Gründer*innen nicht unbedingt entsprechen müssen. Das heißt, es geht neben Bedarfen an Information und Vernetzung auch um Weiterbildung in interkultureller Hinsicht.

Welche Lösungsansätze wurden in Ihrem Projekt entwickelt? Was können andere Regionen von Ihren Erfahrungen und Handlungsansätzen lernen?

Leonie Wagner: Ausgehend von den Bedarfen haben wir im Projekt MIGOEK zusammen mit den Praxispartner*innen (Landkreise Cloppenburg, Holzminden und Werra-Meißner-Kreis) auf der Grundlage von wissenschaftlichen Analysen für die Bereiche Information, Vernetzung und Weiterbildung verschiedene Formate entwickelt. Im Bereich Information wurden zum einen Broschüren erstellt, in denen neben Grundinformationen zum „Gründen in Deutschland“ die in den Landkreisen vorhandenen Anlauf- und Beratungsstellen sowie die dortigen Ansprechpersonen verzeichnet sind. Die » Broschüren gibt es als print-Version und zum Download auf der MIGOEK-Webseite sowie auf den Webseiten der Landkreise. Zudem wurden niedrigschwellige Informationsveranstaltungen konzipiert, in denen die Mitarbeiter*innen des Projekts gemeinsam mit Praxispartner*innen Grundlagen der Existenzgründung vorgestellt und „erste“ oder auch weitergehende Fragen beantwortet haben. In den Bereich Information fällt auch eine » Datenbank, die über bundesweit bestehende Beratungs- und Unterstützungsangebote für migrantische Gründungsinteressierte und Unternehmer*innen informiert und insbesondere Verantwortlichen für Gründungsberatung und Integrationsförderung eine Orientierung bieten soll. Ein weiteres Projekt in diesem Bereich sind die » „Erfolgsgeschichten“. Hier werden erfolgreichen migrantische Gründer*innen aus den beteiligten Landkreisen in kurzen Video-Clips portraitiert. Sie berichten von ihren Gründungen und geben Gründungsinteressierten hilfreiche Tipps.

Jörg Lahner: Vernetzung war daneben ein besonders wichtiges Thema. In diesem Bereich haben wir zum einen Vernetzungsveranstaltungen organisiert und moderiert, zu denen Mitarbeiter*innen aus Existenzgründungsberatung, sozialen Einrichtungen und Mitglieder von Migrant*innenorganisationen eingeladen wurden. Auch wenn gewöhnlich davon ausgegangen wird, dass in ländlichen Strukturen „jede*r jede*n kennt“ kann das für die hier angesprochenen Personenkreise nicht bestätigt werden. Mit den Vernetzungstreffen sollten deshalb Informationen über die Arbeit der einzelnen Bereiche ausgetauscht und Netzwerkkontakte geschlossen werden, die bessere Verweisungsmöglichkeiten eröffnen. Ein weiteres, internes Format waren Vernetzungstreffen zwischen unseren Praxispartner*innen aus der Wirtschaftsförderung, die dem Austausch zwischen den beteiligten Landkreisen dienten und gut angenommen wurden.

Leonie Wagner: Bezogen auf Weiterbildung wurden von uns anfangs Schulungen zu Interkultureller Kompetenz über das IQ-Netzwerk in allen beteiligten Landkreisen angeboten. Die Evaluation dieser Veranstaltungen ergab, dass die Teilnehmenden sich stärkere Bezüge zu ihren Arbeitskontexten wünschten. Da es bislang keine spezifischen Weiterbildungen gab, die interkulturelle oder diversitätsorientierte Inhalte mit Themen der Existenzgründung verbinden, haben die Mitarbeiter*innen des Projekts eine eigene Weiterbildung entwickelt: „Vielfalt in der Gründungsberatung“. Hier werden in verschiedenen Modulen zum einen Grundlagen von Diversität und zum anderen Beratungsmethoden vorgestellt und geübt, die auf die spezifischen Bedarfe zugeschnitten sind. Über das Angebot wurde ein » Video erstellt, in dem auch Teilnehmende zu Wort kommen.

Was nehmen Sie aus dem gemeinsamen Forschungsprozess – von Wissenschaft und Praxis – mit?

Leonie Wagner: Es ist aus unserer Sicht hoch spannend in der Forschung direkt mit der Praxis zusammenzuarbeiten. Durch den direkten Austausch und die Erfahrungen der dreijährigen Projektarbeit vor Ort haben wir eine Menge lernen und vielfältige Erkenntnisse – aus praxisbezogener und wissenschaftlicher Sicht – gewinnen können. Hinzu kommt, dass MIGOEK sowohl auf der wissenschaftlichen als auch auf der Praxisebene ein interdisziplinäres Projekt ist: „Wirtschaft“ trifft „Integration“ gilt insofern sowohl für die Wissenschaft (Planung, Soziale Arbeit und Wirtschaftsförderung) als auch für die Praxis. Das Projekt hat darüber hinaus insofern Neuland betreten, da die Perspektive auf Existenzgründungen in ländlichen Regionen bislang kaum in den Blick genommen wurde. Drei Jahre Projektlaufzeit haben sich vielleicht auch deshalb als zu kurz herausgestellt, um tatsächlich nachhaltige Strukturen aufzubauen und vor allem zu verankern.

Jörg Lahner: Für den gemeinsamen Erfolg eines solchen Projektes sind aber offensichtlich weniger die unterschiedlichen Rahmenbedingungen wie etwa Demografie, Wirtschaftskraft oder der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund entscheidend. Übergeordnet sind vielmehr Offenheit, Kooperationsbereitschaft und Commitment von Politik und Verwaltung unabdingbare Voraussetzungen, um Veränderungen herbeizuführen. Das gilt gerade auch für die operative Ebene. Die Bereitschaft, eigene Handlungsweisen zu hinterfragen, neue Themen zu erschließen und damit Mehrarbeit in Kauf zu nehmen sowie Weiterbildungsangebote anzunehmen, ist nicht nur eine strukturelle Frage, sondern hängt letztlich von der Einzelperson ab. Angewandte Forschung muss deshalb auf der operativen Ebene die „Willigen“ identifizieren und auswählen. Dies scheint der wichtigste Erfolgsfaktor, vor den verschiedenen Rahmenbedingungen.

Die vermeintlichen Vorteile von überschaubaren ländlicher Strukturen sind außerdem zu hinterfragen. Etwa die Annahme „man kennt sich“ gilt zumindest für die Arbeitsbereiche Integration und Wirtschaftsförderung weitgehend nicht. Die Kenntnisse über die Akteur*innen und Aktivitäten des jeweils anderen Bereiches, vor allem auch über die Potenziale für die eigene Arbeit, sind meist sehr gering.

Leonie Wagner: Eine Vernetzung von Integration und Wirtschaftsförderung erfordert professionelle Unterstützung und geeignete Formate, geschieht also nicht von selbst. Generell gilt: wer die Unterstützungsangebote für migrantische Ökonomie verbessern und damit die Potentiale stärker nutzen will, braucht dafür Ressourcen, Interesse, Know-how und etwas Geduld.