"Ortsinnenentwicklung": Neues Leben für alte Ortszentren
„Die Forschung im Dorf, das schmeichelt schon“, sagt Projektleiter Otfried Herling. Das Dorf, das sind genaugenommen 17 Gemeinden im hessischen Wetteraukreis. Fachwerkhäuser mit roten Balken in sanft hügeliger Landschaft; Gehöfte, die hier Hofreite heißen. Insgesamt rund 200.000 Einwohner. Frankfurt am Main liegt 30 Kilometer Luftlinie entfernt. „Wir wollen vom Wachstum Frankfurts profitieren, ohne unseren ländlichen Charme zu verlieren“, sagt Herling und nennt die Strategie dafür: Innenentwicklung. Attraktive Ortszentren, die neuen Wohnraum bieten, gleichzeitig Platz für neue Wirtschaftsmodelle, Kultur und nachbarschaftliches Miteinander. Lebensqualität für viele Generationen. In 17 Städten und Dörfern. Über Gemeinde- und Verwaltungsgrenzen hinweg. Das ist keine Selbstverständlichkeit.
Eindrücke von der Abschlusspräsentation "Dorf und Du" - Projekt Ortsinnenentwicklung
Wie gelingt Innenentwicklung – strategisch, langfristig, nachhaltig?
Dafür holten sich die Gemeinden vor zweieinhalb Jahren die Forschung ins Dorf. In drei ausgewählten Orten – Butzbach, Nidda, Ortenberg – sollte exemplarisch eine Strategie erstellt werden. Melanie Geier ist Spezialistin für attraktive Ortszentren. Die Geografin verfasst derzeit ihre Dissertation zum Thema „Innenentwicklung in ländlichen Räumen“. In die Dörfer und Städte des Wetteraukreises kam sie mit Studierenden der Universität Gießen. Gemeinsam mit weiteren Kooperationspartnern erfassten und analysierten die Forschenden zunächst: leerstehende Gebäude, Baulücken, potenziellen Leerstand; Verkehr, Wirtschaftslage, Bevölkerungsinitiativen. „Innenentwicklung ist ein Grundkonstrukt mit vielen Facetten aus Planung und Verwaltung, Bau, Denkmalschutz, Wirtschaft, Kultur und Sozialem. Wir haben diese zusammen geführt und auf die regionalen Gegebenheiten angepasst.“
Ein „Instrumentenkoffer“, so Geier, ist entstanden. Eines dieser Instrumente ist ein Testentwurf, wie ein leerstehendes zentrales Gehöft in Nidda neu und gewinnbringend genutzt werden kann. Dafür erstellte ein Architekt das Nutzungskonzept eines Wirtschaftshofs mit neuem Wohnraum, das Gemeinde und Ortsbeirat mit der Expertise „Wohnen am Fluss“ anboten. Ein Investor fand sich schnell. Für Projektleiter Herling ein Erfolgsmodell: „Dieses Invest, fertige Entwürfe anzubieten, sollten Kommunen tätigen.“
Warum überhaupt Innenentwicklung?
Weil Entwicklung von innen kommt, sagt Projektleiter Herling. Weil der Ausbau der Zentren mittel- und langfristig finanzielle und ökologische Vorteile hat, sagt Melanie Geier. Der Erhalt vorhandener Infrastruktur ist kostengünstiger als etwa Wohnungsneubau auf der grünen Wiese. Er schafft individuelle Atmosphäre; weniger Flächen werden verbraucht. Nicht zuletzt stärken starke Ortszentren auch das Lebensgefühl der Bewohner. „Dorf und Du“ nannten die Forschungspartner ihr Projekt deshalb zusätzlich zum offiziellen Titel „Ortsinnenentwicklung“.
Kooperation ist für den Projektleiter denn auch ein Schlüsselbegriff für gelungene Ortsinnenentwicklung. Über Verwaltungsgrenzen hinweg und mit den Bürgern. Gemeinsam wurde etwa für eine Straße, die mitten durch einen Ort führt, ein Konzept erstellt, das Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer gleichermaßen berücksichtigt – mit verkehrsberuhigten Zonen und neuen Aufenthaltsorten.
Auf Kooperation setzt auch ein weiteres Instrument der Strategie, das Melanie Geier aus dem Wirtschafts- auf den Wohnbereich umformte: Im sogenannten „Business Improvement District“ schließen sich Gewerbetreibende zusammen und stärken mit eigenen Mitteln die Attraktivität ihres Standortes. Auch Einwohner von Ortszentren können auf diese Weise Sorge für ihr Wohnquartier tragen, zum Beispiel leerstehende Gebäude kaufen und neu nutzen.
Forschung kann manchmal auch Überzeugungsarbeit sein.
Das ist eine der Erfahrungen, die Wissenschaftlerin Geier aus dem Projekt mit nimmt. Sie nennt es „Innenentwicklung greifbar machen“. Dafür hat sie mit den Einwohnern der Gemeinden gesprochen, auch mit den Mitarbeitenden in den zuständigen Verwaltungen. Dass Überzeugungsarbeit auch auf unkonventionelle Weise stattfinden kann, bewiesen die Einwohner eines weiteren Ortes. Kurzerhand luden sie zum Dorfpicknick. Jung und alt, Zugezogene und Alteingesessene berieten gemeinsam, wie sie ihren Ort gestalten können.
Das Projekt hat Impulse gesetzt, als Schneeballeffekt Entwicklung angestoßen und mit einer Strategie für die gesamte Region die Richtung vorgegeben. Jetzt, nach seinem Ende, kümmern sich zum Beispiel ausgebildete, ehrenamtliche Dorfentwickler darum, dass es weitergeht. Und der Schneeball ist schon weit über die Grenzen des Wetteraukreises gerollt. Die neue hessische „Akademie Ländlicher Raum“ hat Interesse an den Machern und ihren Ergebnissen.
Otfried Herling: „Den Zug, den wir mit Hilfe der Forschungsförderung starten konnten, den fahren wir jetzt weiter.“
Das macht Mut.